Literaturwissenschaftliche Tagung und Lesungen von Autorenkollegen

zum 65. Geburtstag

des SChriftstellers

Dr. Arnold Stadler

(12.-14. April 2019, Schloss Meßkirch)

 

„Jedes einzelne Leben ist die Welt“.

Interdisziplinäre Tagung zum Werk Arnold Stadlers

anlässlich seines 65. Geburtstages

 


Der im Heideggerschen Meßkirch geborene und im nahen Dorf Rast aufgewachsene Schriftsteller Arnold Stadler zählt zweifelsohne zu den bedeutendsten deutschen Schriftstellern der Gegenwart. Er erhielt für sein bisheriges Werk breite Anerkennung, darunter den renommierten Georg-Büchner-Preis, den Kleist-Preis, den Alemannischen Literaturpreis, den Johann-Peter-Hebel-Preis, den Nicolas-Born-Preis für Lyrik, den Hermann-Hesse-Preis und den Marie-Luise-Kaschnitz-Preis sowie mehrere weitere namhafte Auszeichnungen. Der studierte Theologe und promovierte Literaturwissenschaftler, der am 9. April 2019 seinen 65. Geburtstag feierte, gilt seit seinem Debüt mit dem autobiografisch grundierten Roman Ich war einmal (1989) als Meister abgründiger Sprachbilder, aphoristischer Pointen, verzweifelt komischer Geschichten und traurig-heiterer Helden. Als „Satzdenker“ (Jürgen Gunia) ist Stadler auch ein Meister einer Ästhetik des Um- und Weiterschreibens – und längst auch Gegenstand der Literaturwissenschaft.

 

Arnold Stadler (links) mit seinem Mentor Martin Walser
Arnold Stadler (links) mit seinem Mentor Martin Walser

Arnold Stadler schafft in seinen Romanen, Erzählungen, Essays zur Kunst und Literatur, Porträts, Gedichten und Psalmen-Übertragungen einen Text(t)raum, in dem seine Sätze eine ganze „Existenzdimension“ eröffnen, wie sein Leser und großer Mentor Martin Walser früh bemerkt hat.

 

Stadler, der seiner Herkunftsgegend von seinem Romanerstling an über Feuerland (1992) und Mein Hund, meine Sau, mein Leben (1994) mit seiner nachgetragenen Liebe ein Denkmal gesetzt hat, legt weniger Wert auf den Plot seiner Erzählung. Als ein neuer „Meister von Meßkirch“ knüpft der Raster Schriftsteller, der in Berlin und im Wendland weitere Wohn- und Arbeitsplätze hat, in seinem Œuvre ein intertextuelles „Sprachgitter“ (Rauschzeit, 2016) und vergegenwärtigt dabei eine Welt über den Tag hinaus – zur Besinnung und Orientierung (so der Titel der 2011 von Friedemann Maurer und Arnold Stadler für Ewald Marquardt besorgten Festschrift). Stadler bringt in seinen Texten zur Sprache, dass „jedes einzelne Leben die Welt“ ist, wie es in dem von Michael Albus besorgten Gesprächsband Was ist Glück? Nachher weiß man es (2018) an einer Stelle heißt. Dabei ist Stadler in seinem Schreiben selbst - wie auch der Maler Jacob Bräckle, dem Stadler einen großen Essay (2012) gewidmet hat, – ein virtuoser „Vergegenwärtiger und Retter der Welt überhaupt“. Diese Welt, so Stadler im Bräckle-Essay, „ist mehr als Oberschwaben, es ist das Ganze im Fragment“. Und so lassen sich auch Stadlers Texte lesen. Es scheint, als schriebe er an einem einzigen Buch, wobei „im Grunde alles nach Hause geschrieben“ ist, wie es Stadler im Werk von Marie Luise Kaschnitz ausmacht.

 

Sauldorfer Bgm. Wolfgang Sigrist, Arnold Stadler und Meßkircher Bgm. Arne Zwick (v. l. n. r.)
Sauldorfer Bgm. Wolfgang Sigrist, Arnold Stadler und Meßkircher Bgm. Arne Zwick (v. l. n. r.)

Stadlers 65. Geburtstag am 9. April 2019 war willkommener Anlass für ein interdisziplinäres und internationales Symposium unter dem Titel „Jedes einzelne Leben ist die Welt“ (12. - 14. April). Eingebettet in die Tagung im Meßkircher Schloss war die Verleihung der doppelten Ehrenbürgerwürde seiner Geburtsstadt Meßkirch und seiner Heimatgemeinde Sauldorf, in deren Teilort Rast Stadler lebt.

 

Finanziell gefördert wurde die Tagung von der Gesellschaft Oberschaben für Geschichte und Kultur, vom Forum Allmende, dem Landkreis Sigmaringen, der Sparkasse Meßkirch-Pfullendorf, den Oberschwäbischen Elektrizitäts-werken, der Privaten Stiftung Ewald Marquardt (Rietheim-Weilheim), dem Sparkassenverband Baden-Württemberg, der Literaturstiftung Oberschwaben, von Elke Gross (Gailingen) und Dr. Hans-Jochem Steim (Schramberg) sowie einem weiteren Sponsor, der nicht namentlich genannt sein wollte.

 

Und um es gleich vorweg zu sagen: Fulminant war der Zuspruch, facettenreich die wissenschaftlichen Zugriffe, faszinierend die Vielstimmigkeit der Lesungen der befreundeten Autorinnen und Autoren, fesselnd der musikalische Rahmen, festlich-glänzend die gesamte Tagung. Zusammen mit Siegmund Kopitzki, dem früheren Kulturredakteur des SÜDKURIER, Konstanz, Dr. Edwin Ernst Weber, Geschäftsführer der Gesellschaft Oberschwaben und Sigmaringer Kreisarchivar, und dem Meßkircher Verleger Armin Gmeiner, hatte der gebürtige Meßkircher Dr. Anton Philipp Knittel, Gründungsleiter des Literaturhauses Heilbronn, federführend ein dicht gedrängtes, abwechslungsreiches und stimmiges Programm zusammengestellt. Allein gut 140 Tagungsbesucher, weit über 250 Teilnehmer bei der Verleihung der Ehrenbürgerschaft und knapp 300 Zuhörerinnen und Zuhörer des Lesemarathons zu Ehren Stadlers brachten das Meßkircher Schloss an seine Kapazitätsgrenzen – ein Indiz nicht nur für ein lohnendes Tagungsunterfangen, sondern auch für die hohe Anerkennung Stadlers im Literatur- und Kulturbetrieb.

 

Nach dem Grußwort des Meßkircher Bürgermeisters Arne Zwick eröffnete Knittel die Tagung, die wie ein großes Familien- oder zumindest doch wie ein Klassentreffen sei. Allerdings nicht so wie im dritten Roman von Arnold Stadler in Mein Hund, meine Sau, mein Leben. Dort heißt es: „Das Klassentreffen stellte sich als Wiedersehen der abgebrühtesten Insassen eines Gefangenenlagers heraus. Man tauschte seine Erinnerungen mit den Wärtern von einst, und wir waren sprachlos und flüchteten uns in Äußerlichkeiten wie immer schon: meine angebliche Schönheitsoperation wurde zu einem Hauptthema des Tages“. Dagegen meinte Knittel augenzwinkernd: „Ich bin gewiss: Selbst die Abgebrühtesten unter uns freuen sich auf das Hauptthema unserer Geburtstagstagung – nämlich die Schönheit, die Ästhetik der Texte Arnold Stadlers – sie steht neben der Festveranstaltung heute Abend und den Lesungen morgen Abend im Mittelpunkt.“

 

Der Tübinger Literaturwissenschaftler Professor Dr. Georg Braungart machte den Anfang mit seinem Vortrag über „Arnold Stadler als Lyriker“. Ausgehend von der Tatsache, dass Stadler sein öffentliches Schriftstellerleben mit dem Gedichtband Kein Herz und keine Seele. Man muss es singen können (1986 im St. Gallener Erker-Verlag erschienen) begonnen hatte, fragte Braungart, was Stadlers Lyrik ausmacht. Seinen Ausgang nahm Braungart bei der Dissertation Stadlers, die die Psalmenrezeption durch Brecht und Celan behandelt, sowie die Stadlers eigenen Psalmen-Überragungen, die nicht zuletzt ihre Basis in dessen „Introibo“-Zeit hätten. Nicht die saloppe Definition, wonach jeder Text ein Gedicht ist, bei dem rechts noch Platz frei bleibt, und auch nicht die auf Stadlers Lyrik noch zu erweiternde Definition, wo zudem noch oben und unten Platz bleibe, kennzeichne Stadlers Lyrik. Markant für seine Lyrik sei vielmehr deren extrem lapidare Diktion. Diese finde sich auch an vielen Stellen der Stadlerschen Prosatexte. Dieser „Ton“, der nicht selten Katastrophen nur gerade so andeute, gehöre sicher zu den auffälligsten Charakteristika solcher Stadlerschen „Brocken“. Braungart zog Parallelen zu Walsers „Meßmer-Büchern“ und deren Gedanken-Brocken. Nicht Reime und regelpoetische Maßgaben sind demnach für Stadlers Lyrik bestimmend, sondern sein intertextuelles Schreiben mit Bezug zu den Psalmen. Schließlich glaube Stadlers Lyrik „ans Wort“. Dem lyrischen Ton der Prosa Arnold Stadlers – insbesondere von Ich war einmal – trug nicht zuletzt die Tatsache Rechnung, dass er für seine autobiografische Trilogie mit einem Lyrik-Preis, dem Nicolas Born-Preis, ausgezeichnet wurde.

 

In der Diskussion verwies Arnold Stadler selbst darauf, dass seine Romane nicht nur einzelne Verse zitierten, sondern sämtliche Titel entstammten seinen Gedichten. Zudem wartete er mit dem Geständnis auf, dass sein letztes publiziertes Buch nach seinem Tod ein Gedichtband sein werde.

 

Der Bielefelder Literaturwissenschaftler Nils Rottschäfer, der wenige Wochen vor der Tagung seine Dissertation über Stadler eingereicht hat, untersuchte unter dem Titel „Umschreiben. Weiterschreiben. Strategien der poetischen Selbstbehauptung in Arnold Stadlers Einmal auf der Welt. Und dann so“.

 

In Stadlers 2009 unter dem Titel Einmal auf der Welt. Und dann so erweiterter und umgeschriebener autobiografischen Roman-Trilogie Ich war einmal, Feuerland und Mein Hund, meine Sau, mein Leben sind existenzielle Empfindungen des Aufgehoben- und Getragenseins prägende Sehnsuchtsmomente. Stadlers Figuren – so Rottschäfer in seinem Abstract – beharren scheinbar naiv auf dem Einfachen, auf dem Wunderglauben und der Möglichkeit einer glückhaften Erfahrung. In dieser Sehnsucht finden sie Identität, im Bewusstsein dessen, was fehlt. Erst die als Krise empfundene Verlusterfahrung ermöglicht eine Distanz (zum Herkunftsort, zur Kindheit, zur ‚verschütteten‘ religiösen Tradition, zu glücklichen Momenten), die den Impuls auslöst, die Welt erzählerisch zu modellieren, das Nicht-mehr-fraglos-zur-Verfügung-Stehende ästhetisch zu gestalten, so Rottschäfer. So wie die Figuren Stadlers letztlich nirgendwo „ankommen“, so führe Stadler schreibend vor, dass sein Schreibprozess nie zum Ende komme.

 

„Von der epischen zur episodischen Heimkehr. Ein geschichtsphilosophischer Versuch zu Arnold Stadlers Romanen“ war der Vortrag des Münsteraner Literaturwissenschaftlers Dr. Jürgen Gunia überschrieben. Anhand von Georg Lukács' Theorie des Romans (1916 / 1920) und unter Rückgriff auf Erzähltexte von Wilhelm Raabe, Erich Maria Remarque und W.G. Sebald galt Gunias Aufmerksamkeit dem Heimkehrmotiv im Werk Stadlers. Er kam zum Ergebnis, dass es bei Stadler keine erzählte, sondern allenfalls eine szenisch aufgerufene Heimkehr gebe. Und auch diese sei allenfalls eine Rückkehr, da die dafür erforderliche Differenz von Heimat und Fremde immer schon unterlaufen werde. Statt „Heimkehr“ könne beispielsweise in Salvatore (2008) eher von einer „Umkehr“ (Metanoia) gesprochen werden, die der Gefahr des Dogmatismus durch ästhetische Performanz entgehe.

 

Den Abschluss des ersten Teils der wissenschaftlichen Tagung machte der emeritierte Wiener Literaturwissenschaftler Professor Dr. Franz Eybl. Er analysierte unter der Überschrift „Sinn und Sinnlichkeit“ „erzählte Gefühle“ in Stadlers bislang letztem Roman Rauschzeit (2016). Stadlers Prosa in Rauschzeit wirke zunächst weithin unsinnlich, würden Körper, Figuren und Orte doch eher unbeschrieben bleiben. Sinn entstehe erst „auf einer biografischen Zeitachse“ im „Rückspiegel“ und mit Blick auf die Zukunft. Gefühle werden in Stadlers opus magnum insbesondere über den leitmotivischen Einsatz poetologischer Signale wie „Schmutzfink“, „Sprachgitter“, „Rückspiegel“ oder „Foto“ semantisch aufgeladen, wobei Erzählkerne um- und weitergeschrieben werden. Sinn entstehe über die Vernetzungsstruktur der erzählten Geschichten – oder auch – mit Blick auf Stadlers Essay Da steht ein großes JA vor mir (2013) zu einer Arbeit von Margret Marquardt – durch „Verhüllung von Absenz durch Gewebe“.

 

Feierlich festlich wurde es am Abend. Nach dem „Abendchor“ aus der Oper Das Nachtlager von Granada, gesungen von Conradin Kreutzer-Chor, Meßkirch, unter der Leitung von Franz Raml, und der Begrüßung durch Bürgermeister Arne Zwick und Dr. Anton Philipp Knittel folgte das vom Kreutzer-Chor vorgetragene „Hobellied“ aus dem Volksstück Der Verschwender von Ferdinand Raimund in der Kreutzer-Komposition. Im Anschluss an eine kurze Stadler-Lesung aus seinem Romandebüt gab es eine muntere Talkrunde unter dem Titel „Ich war einmal“ zwischen Stadler und der Fernsehjournalistin Luzia Braun, eine ehemalige Klassenkameradin Stadlers, sowie Knittel. Alle drei erinnerten unter anderem an die anfänglich überaus kritische Rezeption der Stadlers Werke in der Region rund um Meßkirch. Es folgte ein beeindruckender musikalischer Beitrag des Augsburger Cellisten Professor Julius Berger. Er zog mit Werken von Johann Sebastian Bach das Publikum in seinen Bann. Nach der Suite Nr. 1 G-Dur, BWV 1007, und dem Vorspiel und dem Cantus firmus aus dem Choral „Wenn ich einmal soll scheiden“ spielte Berger noch die Suite Nr. 3 C-Dur, BWV 1009. Vor der Verleihung der doppelten Ehrenbürgerwürde las Dr. Knittel eine Glückwunsch-Mail von Martin Walser an Arnold Stadler vor. Darin heißt es: „Wir leben mit und von deinen Sätzen. Dass es mehr geben muss als alles, hast du gesagt. Und es ist der gewaltigste Satz, den ich kenne. In wilder unbuchstabierbarer Zustimmung“.

 

Der Meßkircher Bürgermeister Zwick und sein Sauldorfer Amtskollege Wolfgang Sigrist betonten bei der Verleihung der Ehrenbürgerschaft an Stadler seine bleibende Vergegenwärtigung der Herkunftsgegend. Stadler habe, so Zwick, mit seinen Texten „der Heimat ein Denkmal“ geschaffen; der Autor sei, so Sigrist, „ein Briefträger mit der Sprache als wertvollstem Schatz im Gepäck“. Stadler selbst erinnerte in seiner Dankesrede an Motive und Voraussetzungen seines Schreibens.

 

War der erste Abend „Werbung für die Literatur“, wie es in der Tagespresse hieß, so ging es am Samstag dann auf hohem literaturwissenschaftlichem Niveau weiter.

 

Dr. Hans-Rüdiger Schwab, Professor für Ästhetik und Kommunikation an der Katholischen Hochschule Nordrhein-Westfalen, Abteilung Münster, widmete sich „Spielarten des Philosophierens in Arnold Stadlers Texten“. Neben Martin Heidegger, der früh in Stadlers Texten auftaucht – insbesondere der immer wieder zitierte und variierend weitergeschriebene Satz vom „Schmerz als Grundriss des Seins“ sind es Formen des philosophischen Denkens, die Stadlers Texte flankieren. Neben der Philosophie des Meßkircher Landsmanns Heidegger machte Schwab Gedanken unter anderem von Nietzsche, Kierkegaard oder auch Odo Marquardt für die Poesie des „poeta doctus“ Stadler aus.

 

Pier Paolo Pasolini im Werk Stadlers galt Professor Dr. Hansgeorg Schmidt-Bergmanns (Universität Karlsruhe) Vortrag. Dabei nahm er nicht nur Salvatore, den 2008 erschienenen und von der Kritik teils hymnisch gelobten, aber auch von manchen mehr oder weniger deutlich abgelehnten Text, in den Blick, sondern auch das auf Salvatore basierende Hörspiel Evangelium Pasolini (2016), das mit dem Hörspielpreis der ARD ausgezeichnet worden ist. Hörspiel wie Stadlers Auseinandersetzung mit dem 1975 ermordeten Filmemacher und Dichter Pasolini lassen sich begreifen als ein „Dokument der Menschlichkeit und eine Apotheose der Kunst in düsteren Zeiten“. Beide lassen sich thematisieren zugleich jene Sehnsucht nach dem ganz Anderen.

 

Der Literaturwissenschaftler Professor Dr. Michael Braun (Universität Köln) untersuchte anhand der Erzählung Ausflug nach Afrika (1997, erweiterte Neuauflage 2006) „Arnold Stadlers fragmentarisches Erzählen“ unter der Folie der Idylle als „Vollglück in der Beschränkung“. Stadler verwandle das Jean Paul‘sche Erzählen in „fragmentarische Formen des Erzählens von Sehnsucht, Erlösung, Heimat und Religiosität“. Ausgehend von Stadlers Satz im FAZ-Fragebogen von 1999, wonach ihm der Ausspruch des heimischen Architekten, man müsse beim Bauen auch an Abreißen denken, geblieben ist, widmete sich Braun Stadlers „Poetik der Vergänglichkeit“ unter anderem auch mit Blick auf Walsers Heilige Brocken (1986) und Stifters Poetik zwischen Fragment und Idylle.

 

Der Theologe und Journalist Professor Dr. Michael Albus (Mainz) beleuchtete unter dem Titel „Ein Kapitel für sich“ das Thema „Arnold Stadler und die Theologie“. In persönlichem Erfahrungszugang – insbesondere aus der lateinamerikanischen Befreiungstheologie – machte Albus deutlich, dass Stadlers Theologieverständnis weniger rational dominiert als sehnsuchtsvergegenwärtigend geprägt ist. Stadlers Theologie manifestiere sich als Sehnsucht nach dem „ganz Anderen“, wonach der Mensch Zeit seines Lebens verlangt – was bereits Schmidt-Bergmann anhand von Salvatore betont hat. Stadler sei in seinem theologisch geprägten Schreiben eher „ein konservativer Mystiker, dem das Wort allein nicht zureichend und ausreichend ist, um dieser Sehnsucht nach dem ganz Anderen auf den Grund zu kommen“. In Stadlers Theologieverständnis zeichne sich so eine kommende Theologie ab.

 

Der Freiburger Theologe Dr. Pascal Schmitt, mit einer theologischen Dissertation zum Werk Stadlers hervorgetreten, analysierte „Heimat als Nicht-Ort bei Arnold Stadler“ Nach einem Rekurs auf die aktuelle Relevanz des Themas „Heimat“ eruierte er philosophisch-theologisch Gründe für die eine Renaissance von Heimat. Im Hauptteil legte Schmitt den Fokus auf die Sinnfrage und transzendente Bezüge im Werk Stadlers und stellte zur Diskussion ob Stadler als „Heimatschriftsteller“ zu verstehen sei.

 

Zahlreich und weit verstreut sind die Äußerungen Arnold Stadlers zur Bildenden Kunst und zu Bildenden Künstlern. Am bekanntesten sind sein mittlerweile längst vergriffener Großessay Auf dem Weg nach Winterreute (2012) über den oberschwäbischen Maler Jakob Bräckle oder seine Auseinandersetzungen mit Mark Tobey. Und nicht zuletzt widmet sich Stadler immer wieder zeitgenössischen Malern und Bildhauern. Zufälligerweise begann der oberschwäbische Künstler Robert Schad während des Symposiums in Meßkirch mit der Umsetzung seines Skulpturenprojekts „Von Ort zu Ort“, wobei an mehr als 40 Orten in Oberschwaben 60 großformatige Skulpturen zu sehen sind, darunter auch vier Skulpturen in Meßkirch. Umso besser traf es sich, dass sich die Freiburger Kulturjournalistin und Redakteurin der BADISCHEN ZEITUNG, Dr. Bettina Schulte dem Thema Arnold Stadler und Robert Schad in einem close reading widmete.

 

„‘Ohne aus der Zeit zu fliehen‘. Arnold Stadler als erratischer Block in der süddeutsch-alemannischen geistigen Landschaft“ lautete der Vortrag des Schweizer Autors und ehemaligen Lehrers Dr. Pirmin Meier. Ausgehend vom Reinhold Schneider-Zitat (Stadler ist auch Träger des Reinhold-Schneider-Preises) verortete Meier Stadler in der Tradition eines Johann Peter Hebel, eines Jean Paul oder Adalbert Stifter als Ausnahmeerscheinung im süddeutschen Katholizismus unserer Tage. „Dass eine religiöse Fundierung nicht mit trivialem Moralismus zu verwechseln ist, vielmehr mit Sehnsucht nach Schönheit und Herrlichkeit zu tun hat, könnte man bei einem wahrhaft ‚freisinnigen‘ und ‚freisinnlichen‘ Katholiken wie Stadler wieder lernen“, so Meier. Kritische wie humorvolle Substanz in einer nachklerikalen Zeit seien bei ihm wieder neu zu entdecken. Mit schmerzstillendem Furor umschreibe er poetisch die Erfahrung, die auf der Stele des Paracelsus zu lesen sei: „allein, fremd und anders“.

 

War der erste Abend bereits beste Werbung für Literatur, so stand der Samstagabend dem in nichts nach. Im Gegenteil: Das Publikum erlebte eine spannende Bandbreite an stilistisch unterschiedlichsten Textpassagen und Sequenzen, höchst unterhaltsam vorgetragen, anmoderiert von Luzia Braun, Arnold Stadler, Siegmund Kopitzki und Dr. Anton Philipp Knittel. Über zweieinhalb Stunden dauerte der Lesemarathon unter dem Titel „Lieber Gott, lies das mal“, der einer Besprechung des Stadlerschen Salvatore durch Andreas Maier entnommen war. Es lasen Martin Walser (aus einem Essay über Arnold Stadler), Bruno Epple (Mundart-Gedichte), Christof Hamann (ein eigens verfasster Text „Mein Stadler) sowie Jörg Hannemann, Gaby Hauptmann, Jochen Jung, Andreas Maier, Reinhard Kaiser-Mühlecker, Walle Sayer, Alissa Walser, Johanna Walser und Joachim Zelter, letzterer eine Heidegger-Passage aus seinem Roman Die Würde des Lügens.

 

Zunächst im Zeichen des Films begrüßte Knittel die Gäste am Sonntagvormittag. Nach dem filmischen Porträt von Anita Eichholz „Zwischen Donau und Bodensee. Der Schriftsteller Arnold Stadler“ (2001) und dem frühen Kurzfilm (1992) von Wolfgang Scholz, den Hans-Rüdiger Schwab in Auftrag gegeben und redaktionell betreut hatte, über Stadlers Feuerland folgte eine Diskussionsrunde unter dem Stadlerschen Diktum „Schreiben ist Übersetzen von Welt in meine Sprache“ mit Arnold Stadler, Luzia Braun, Hans-Rüdiger Schwab, Christian Wentzlaff-Eggebert und Franz Armin Morat, moderiert von Siegmund Kopitzki.

 

Arnold Stadler, Christian Wentzlaff-Eggebert, Luzia Braun, Siegmund Kopitzki (Moderation), Franz Armin Morat und Hans-Rüdier Schwab (v. l. n. r.)
Arnold Stadler, Christian Wentzlaff-Eggebert, Luzia Braun, Siegmund Kopitzki (Moderation), Franz Armin Morat und Hans-Rüdier Schwab (v. l. n. r.)

 

Zum Abschluss überraschten „Die Meistersinger“, ein aus der Gächinger Kantorei hervorgegangener Männerchor unter Leitung von Klaus Breuninger, unter anderem mit Liedern von Conradin Kreutzer, Friedrich Glück, Friedrich Silcher und Franz Schubert, bei dem teils auch das Publikum  mitsingen durfte – ein stimmungsvoll-festlicher Abschluss einer vielstimmig-vielsinnigen Geburtstagstagung, die wissenschaftlich, literarisch und musikalisch deutlich gemacht hat, dass „jedes einzelne Leben die Welt“ ist.

 

Eine Publikation der Tagungsbeiträge ist geplant.

 

Dr. Anton Philipp Knittel, Flein


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